21 | Redaktionsgespräch oder jünger. Die Ausschreitungen beginnen nicht auf dem Platz, son- dern kommen von den Eltern, begin- nen also an der Seitenlinie. Was wür- den Sie einem Verein raten, der so was erlebt hat? Pilz: Grundsätzlich müssen die Vereine mehr Verantwortung übernehmen. Es fehlt ein Stück Sensibilität. Ich erinnere mich an einen Fall, als eine Mutter bei einem Jugendspiel pöbelnd aufs Feld rief. Ihr Sohn, ein siebenjähriger Junge, hatte über den Ball gesäbelt, was sie veranlasste, ziemlich laut vernehmlich eine unglaubliche Beleidigung auf den Platz zu brüllen. Ich will das hier nicht wiederholen. Jedenfalls haben wir die Mutter nach dem Spiel darauf ange- sprochen, sie meinte, da wäre doch nichts gewesen. Nachdem wir ihr die Aufnahme vorgespielt hatten, war sie sichtlich erschrocken. Die Gruppe rund um die Mutter, da hätte jemand etwas sagen sollen, ihr deutlich machen müs- sen, dass das so einfach nicht geht. Fuß- ball löst bei uns Emotionen aus, aber es muss eine Grenze geben. Immer noch kursiert die Meinung, solche Dinge könnte man auf dem Fußballplatz sa- gen. Die Vereine sind hier gefordert, etwa indem ein Verhaltenskodex auf dem Platz gilt, den man dialogisch ent- wickeln sollte – dann wirkt er auch. Jetzt ist ja der Fußballplatz kein Opernhaus, und im Fußball treff en sich auch alle Schichten der Bevölke- rung. Besteht nicht die Gefahr, dass man im Bemühen um einen gewalt- und diskriminierungsfreien Fußball überzieht? Pilz: Da begibt man sich aus mei- ner Sicht auf eine gefährliche Grat- wanderung. Ich erinnere mich an ein Fußballerlebnis Sportgerichtsurteil, da hatte der Be- schuldigte den Mitspieler „Schwuler“ genannt und verteidigte sich bei der Sitzung damit, das sei doch so im Fuß- ball üblich. Plötzlich weitet sich der Raum des Erlaubten bis ins nahezu Un- endliche. Wir wissen, dass gerade das gemeinsame auch eine kathartische Wirkung haben kann. Doch Diskriminierung und körperliche Gewalt, da sind klare Grenzen gesteckt. Beleidigungen, Beschimpfungen sind doch oft die ersten Glieder in der Ket- te – und am Ende knallt es auch körper- lich. Emotionen gehören auf den Platz, aber es gibt Grenzen, und die sollten wir gemeinsam setzen. Sie haben sich in Ihren Studien schon in den 1970er-Jahren mit Gewalt im Sport beschäftigt. Pilz: Es sind jetzt tatsächlich genau 50 Jahre, als ich mich zum ersten Mal mit Gewalt im Sport und Fangewalt be- schäftigt habe. Damals habe ich vom Bundesinnenministerium den Auftrag erhalten, ein Gutachten zum Thema Gewalt im Sport zu verfassen. Das Er- nüchternde ist, die Fragen und die Ant- worten auf diese Phänomene sind im- mer die gleichen geblieben. Wenn es schlimmer wird, gibt jemand ein Gut- achten in Auftrag, das wird dann ver- öff entlicht, die Politiker machen das Gegenteil von dem, was drinsteht, und nach zehn Jahren, wenn es wie- der eskaliert, wird das nächste Gut- achten gemacht, in dem das Gleiche steht und wieder das Gegenteil von dem gemacht wird, was gefordert wird. Wir brauchen keine schärferen Geset- ze oder härtere Sanktionen, sondern müssen die bestehenden Gesetze und Sanktionsmöglichkeiten konsequent umsetzen, Beschuldigte konsequent, zeitnah und – ganz wichtig – für die Be- schuldigten nachvollziehbar bestrafen. Es geht nicht um Vergeltung, sondern darum, in den Köpfen der Leute etwas zu bewegen. Deeskalationstrainings für Schiris oder mehr Ordner an den Seitenli- nien oder mehr Leitfäden für Verei- ne – was sollte man unbedingt an- gehen? Pilz: Die Strafmaße in den einzelnen Landesverbänden unterscheiden sich deutlich. Der nächste wirksame Schritt wäre aus meiner Sicht eine Anglei- chung unter den Landesverbänden. Wir wissen, dass schärfere Gesetze manch- mal sogar ein Mehr an Vorfällen bewir- ken. Deeskalationstrainings dagegen befürworte ich sehr, hier fanden bereits Pilotprojekte statt. Rudelbildung, das geschieht oft mit einer Vorgeschich- te. Der geschulte Schiedsrichter holt schon sehr viel früher mal den Mann- schaftskapitän zu sich oder spricht mit dem Trainer an der Seitenlinie. Der DFB und die Landesverbände sollten außer- dem noch intensiver und häufi ger fai- res Verhalten belohnen. Faire Spiele- rinnen und Spieler kriegen manchmal den Stempel aufgedrückt, sie seien naiv und wüssten nicht, wie es wirklich zu- geht. Wir müssen dazu beitragen, dass sich das Bewusstsein ändert. Schließ- lich müssen wir Möglichkeiten zum Perspektivwechsel schaff en. Die Trai- nerinnen und Trainer sollten heißblüti- ge Spielerinnen und Spieler ab und zu mal das Trainingsspiel pfeifen lassen. Die erfahren dann ganz schnell, wie an- spruchsvoll dieser Job ist, und entwi- ckeln mehr Empathie für die Schieds- richter und Schiedsrichterinnen und Verständnis für deren Entscheidungen. DFB; Fotos: getty images HESSEN-FUSSBALL 9/2023